Mit meinem Frühstücksbrot in der Hand renne ich den Weg zurück zu meiner Wohnung. In 13 Minuten wird der Bus abfahren. Ich hatte vor, die Filme und den Roman abzugeben und dann die Haltestelle in Ruhe zu suchen. Doch die Bücherhalle ist noch geschlossen. Jetzt liegen die DVDs und das Buch in dem Rückgabekasten und ich frage mich, warum ich noch einmal von dem Brot abgebissen habe, obwohl ich bereits losgelaufen war.
Oben in meiner Wohnung lege ich das Brot zögernd auf den Zeitschriftenstapel. Eklig, aber alle anderen schnell erreichbaren Ablagemöglichkeiten wären noch ekliger. Ich öffne meinen Mantel, nehme den Schal ab und trage das Parfüm auf. Jetzt kann ich los.
Als ich 15 Jahre alt war, begleitete ich meine Großmutter nach Russland. Wir flogen, während der Rest meiner Familie mit dem Auto eine Fähre nahm. Ich war seit dem Flug nach Deutschland Anfang der neunziger Jahre nicht mehr geflogen. Weil meine Oma sich die lange Autofahrt sparen wollte, wurde mir die Ehre zuteil, mit ihr zu reisen. Sie sollte nicht allein fliegen. Ich bekam einen Reisepass ausgestellt. Ich wurde herausgehoben aus dem Kreis meiner Schwestern. Ich kam mir besonders vor. Später fühlte ich mich aber auch ausgeschlossen, wenn ich die Fotos meiner Familie aus diesem Urlaub betrachtete.
In Moskau lebten wir bei einem Cousin meiner Großmutter, dessen Frau das Mineralwasser, das wir umständlich gesucht und gekauft hatten, wegtrank. In Moskau war das Leitungswasser gechlort. Der Tee schmeckte widerlich. Während wir durch die Stadt zogen, entdeckte ich eine Subway-Filiale. Das war damals etwas Großes. Den Laden kannte ich nur aus Berlin; erst ein paar Jahre später eröffnete auch in meiner Heimatstadt einer. In der Nähe dieser Subway-Filiale war ein Kiosk, ein Verkaufsstand an der Straße. Dort fand ich einen winzigen Flakon des Eau des Toilettes „Hugo Boss Woman“. Ich war aufgeregt. Ich glaube, eine meiner Freundinnen benutzte es damals. Es roch wunderbar. Ich rechnete den Preis um. Während damals vieles einfach nur spottbillig war – im selben Sommer prahlte ein Mädchen, das ich dort kennenlernte, das ihre Großmutter ihr für umgerechnet 5 DM Kleidung gekauft hatte; ich hatte für dieselbe Summe Unmengen an russischen Süßigkeiten gekauft und schämte mich etwas ob meines „Reichtums“-, hatte das Fläschchen auch in Mark seinen Preis. Meine Oma wollte es mir schenken. Ich zögerte, gierig nach diesem kostbaren Schatz. Schwankend, weil ich nur eine von vielen Enkelkindern war, die mir dieses Geschenk zum Vorwurf machen würden. Unsicher, weil es teuer war. Meine Oma schenkte mir auf dieser Reise ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit, Tüten mit süßen Mais-Flips, die Bekanntschaft mit Freunden und weit entfernten Verwandten, die Freiheit, abends weggehen zu können, so lange ich wollte. Und nun dieses Parfüm.
Es hatte keinen Sprühkopf. Ich musste das Fläschchen an mein Handgelenk halten und es dabei leicht kippen. Den Tropfen verrieb ich dann am Hals und zwischen meinen Handgelenken. Ich hatte sehr lange etwas davon. Es kam nur zu besonderen Anlässen zum Einsatz: Wenn ich zu einem Schulkonzert oder auf eine der Partys ging, die ich weit vor der Zeit wieder verlassen musste. Ich glaube, es hielt Jahre. Bis vor wenigen Jahren hatte ich den Flakon noch. Vielleicht liegt er noch immer in den unzähligen Kartons, die ich nach alle den Umzügen noch immer nicht ausgepackt habe. Ein paar Tropfen werden noch immer darin sein.
Später verschenkte meine Oma nur noch Geld. Wir waren zu viele und unsere Bedürfnisse zu unübersichtlich. Zudem wusste sie den Wert des Geldes zu schätzen. Sie hatte in ihrem Leben lange zu wenig davon gehabt. „Hugo Boss Woman“ bekam ich danach alle paar Jahre von meinen Eltern geschenkt. Ich setzte es auf meinen Wunschzettel, wenn sich der Inhalt der letzten Flasche dem Ende zuneigte. Diese Flaschen waren größer, nie wieder so winzig wie die erste. Nie wieder war der Geruch so intensiv. Zwischendurch bekam ich auch andere geschenkt: von s. Oliver, von mexx. Ich nutzte auch ein kleines Rosenfläschchen, das ebenfalls lange hielt. Aber seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es nur das Eine. Ich benutze es beinahe täglich, zur Arbeit. Ich will, dass man es wahrnimmt, wenn man mich umarmt. Ich genieße den Geruch auf meinem Schal, auf der Kleidung, die an meiner Garderobe hängt. Wenn ich meine Neffen sehe, verzichte ich häufig darauf, weil der ältere einmal zu mir meinte, dass er den Geruch nicht möge. Da war er wohl drei Jahre alt.
Die letzte Flasche kaufte ich mir selbst. Das Unternehmen hat die Produktion des Eau de Toilette eingestellt. Meine Mutter kaufte mir fälschlicherweise das Parfüm der Linie, weil ich eben immer nur vom Parfüm sprach und früher mein Vater diese Art von Geschenken besorgt hatte. Ich gab die Flasche an eine meiner Schwestern weiter und fragte online bei Hugo Boss nach, was mit dem Eau de Toilette geschehen war. Die Kundenbetreuerin war freundlich, aber ohne echtes Verständnis für mein Anliegen. Ich suchte nach Restbeständen und kaufte schließlich eine überteuerte kleine Flasche, von der ich noch heute nicht sicher bin, ob sie tatsächlich original ist. Ich weiß ja nich, wo das erste Fläschchen zum Abgleichen ist. Ich nutze es jetzt wieder bewusster, etwas seltener. Wer weiß, wie lange es noch Flaschen zu kaufen gibt.
Ich trage ein schwarzes Kleid, eine schwarze, engmaschige Strumpfhose, einen schwarzen, leider dünnen Strickcardigan, zu dünne, aber schwarze Schuhe und meinen fetten, nicht-schwarzen Mantel, dazu meine grüne Strickgarnitur. Es soll heute regnen und es ist kalt. Ich habe weitgehend auf Schminke verzichtet, sie würde nur hässliche Spuren hinterlassen. Zudem will ich mich nicht ausstaffieren. Ich will, dass man mir meine Trauer ansieht. Ich inszeniere meine Trauer, obwohl ich das zugleich nicht will. Ich sehe schmal und zart aus und bin zufrieden damit. Aber die Blässe sieht auch erschreckend aus, weshalb ich doch mit dem Kajal die oberen Lider leicht entlang fahre. Auf dem Weg zum Bus frage ich mich, ob es verrückt ist, wegen eines Parfüms zurückgelaufen zu sein.
Aber es ist das Geschenk meiner Großmutter. Etwas, das mir hilft, mich besonders zu fühlen, das mich einlullt. Etwas, das mich lange begleitet.
Ich erreiche die Bushaltestelle rechtzeitig, muss ein paar Minuten warten. Zehn Minuten später bin ich auf dem Friedhof und begleite die Damen aus dem Hauskreis meiner Oma in die Feierhalle 2. Bis zu dem Moment, an dem ich ein paar Familienmitgliedern mit der Geschichte über meinen morgendlichen Aufbruch vermittelt will, wie es mir geht, denke ich nicht mehr an mein Parfüm, an meinen Geruch. So sollte es sein. Ein Begleiter, nichts Aufdringliches.
Ich weiß nicht, wie meine Oma gestern gerochen hat. Ich habe sie nicht berührt, habe mich nicht über sie gebeugt. Ich habe zwei meiner Schwestern in meinen Armen gehalten und geweint. Nicht so frei, wie ich es vermutlich brauche. Ich habe gelacht, weil das Bestattungsunternehmen oder die Floristin, die von diesem beauftragt worden war, ein Wort auf den Schleifen unseres Gestecks vergessen hatte. Nach meinen sorgfältigen Überlegungen zu den Worten, die dort stehen sollten, nach meinem Hinweis darauf, dass ich Lehrerin bin, nach dem Bemühen der Bestatterin, alles genau nach Vorgaben aufzuschreiben, verdammt, nach einer WhatsApp-Auseinandersetzung über die korrekte Schreibweise eines russischen Wortes, hatten sie das „wir“ in unserem Gruß vergessen. An einem anderen Gesteck fehlte ein „h“. Ich lachte am Sarg meiner Oma und wies eine meiner Schwestern auf die Fehler hin. Ich lachte weiter und beruhigte die besorgt fragende Bestatterin, der ich das schon übelnehme. Ich weiß nicht, wem auffiel, dass wir lachten, aber ich war froh, dass wir es taten.
In ihrem Bad in ihrem Haus riecht es noch immer nach ihr. Genauso, wie es auch in ihrem Bad in unserem Haus immer gerochen hatte.