Altersempfehlungen für Romane

Ich habe als Kind und Jugendliche beinahe alles gelesen, was mir unter die Augen kam: Das Kinderlexikon in Farbe, aus dem ich die Grundpositionen des Balletts und den Ausdruck „primus inter pares“ lernte; Groschenromane, die von Bergen, Millionären und Ärzten handelten, wobei ich schnell feststellte, dass mir Grusel und Leidenschaft lieber als weiße Gipfel und Kittel waren; Krimis, in denen Frauen sich selbst retteten; den „Zauberberg“, den ich damals mit etwa 12 nicht begriff und seitdem noch immer nicht wieder gelesen habe. Ja, ich las auch das „Sams“, „Die Brüder Löwenherz“, „Momo“ und „Harry Potter“. Ich las einfach alles, was mir meine Tanten mitbrachten, was ältere Damen meinem Vater mitgaben, nachdem er ihnen von mir erzählt hatte, was ich in der Bibliothek ausleihen durfte. Irgendwann hatte ich unter meinem Bett ein Lager von billigen Heftchen, während ich meiner Schwester aus meinem Lieblingsroman vorlas, auch wenn unsere Eltern zumindest das zeitlich limitierten.

Ich las, was ich wollte. Ich las, was da war.

Erst als mein Vater begann, meiner kleinen Schwester aus den Märchen der Gebrüder Grimm vorzulesen, schien in ihm das Bewusstsein dafür erwacht zu sein, dass nicht alles, was man lesen kann, auch für jeden gedacht ist. Er war schockiert. Bei bewegten Bildern waren unsere Eltern viel restriktiver: Ein wenig nackte Haut, alles, was über einen Kuss hinausging – und schon mussten wir den Raum verlassen. „Red Sonja“ und einen Streifen, in dem es um einen Virus ging, der die Menschen einer Stadt in blutrünstige Kannibalen verwandelte, sah ich zwar noch vor meinem achten Geburtstag – allerdings ohne ihre Erlaubnis, versteckt hinter dem Sofa, während sie die Filme guckten.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir darüber gesprochen hätten, was die Gewaltdarstellungen bei mir bewirken könnten oder warum ich Liebesszenen nicht gucken durfte. Es hieß letztlich nur, ich sei noch zu jung dafür. Ich habe sie nie gefragt, warum sie bei Büchern nicht so vorsichtig waren, mir vielmehr alles Mögliche mitbrachten, ohne auf den Inhalt zu achten.

Wenn ich meiner Schwester vorlas, dann war es vor allem, um den Genuss mit ihr zu teilen, die Aufregung, die Spannung, das Gefühl dieser Welten. Ich dachte darüber nach, ob sie das verkraften, verdauen konnte. Ich zögerte es hinaus, ihr sofort den nächsten „Harry Potter“ vorzulesen, weil ich sie für zu jung hielt. Auch wenn ich wohl nicht lang genug wartete, denn sie war noch keine zehn, als ich ihr schon die ersten vier Bände vorgelesen hatte. Ich war irritiert, auch besorgt, als sie während der Pubertät Romane las, die in meiner Erinnerung „Der Erdbeermörder“ heißen. Diese Bücher wurden innerhalb ihres Freundeskreises herumgereicht. Ich machte nur kleine Andeutungen in Richtung meiner Sorgen – ich hatte schließlich auch vieles gelesen, was nicht altersentsprechend gewesen war.

Heute bin ich Lehrerin und will meinen Schülern Romane empfehlen. Ich will ihre Leselust anstacheln, sie verschiedene Facetten der Welt kennenlernen lassen. Allerdings befürchte ich, ihnen mit meinen Empfehlungen Welten zu offenbaren, für die sie noch nicht reif genug sind. Verlust, Tod, Sex – sind das Themen, von denen sie lesen sollten? Wie alt sollten sie dann sein? Ich befürchte, dass ihre Eltern meine Empfehlungen für jugendgefährdend halten könnten. Mein Leserherz denkt: „Lass sie lesen, was sie wollen. Dir hat es ja auch nicht geschadet. Es hat dich gebildet, aufgeklärt.“ Mein Lehrerhirn erwidert: „Diese Romane wirst du im Unterricht nicht behandeln. Es fehlt also jemand, der die Themen mit ihnen aufarbeitet. Sie verstehen doch viele Metaphern nicht einmal. Was ist, wenn sie das als handlungsanleitend ansehen?“ Verlagsempfehlungen sind auch Kaufempfehlungen, nicht die Entwicklung des Lesers, sondern die Tiefe seines Portemonnaies (oder die von Familienangehörigen und Freunden) steht dabei im Vordergrund.

Ich frage euch als Eltern: Was haltet ihr davon, wenn eure zwölfjährigen Kinder vom Aussaugen durch Dementoren („Harry Potter“), vom Tod durch Bomben oder Pfeile (u. a. „Tribute von Panem“) oder vom ersten Mal (u. a. „Nox“) lesen? Die Helden dieser Beispielromane sind zehn bis siebzehn Jahre alt. Kauft ihr euren Kindern solche Werke? Wie wäre es, wenn eure Kinder sie auf Empfehlung ihres Lehrers läsen und dazu Aufgaben bearbeiteten? Ich bezweifele, dass es dazu nur eine Position gibt. Aber ein paar Anregungen, Gedanken zu dem Thema würden mich freuen.