Anfang der Woche: Der Kuss der Lüge

„Das Ende der Reise. Das Versprechen. Die Hoffnung.

Erzähl mir noch einmal davon, Ama. Erzähl mir von dem Licht.

Ich durchforste mein Gedächtnis nach einem Traum. Einer Geschichte. Einer verschwommenen Erinnerung.

Ich war jünger als du, Kind.

Die Grenze zwischen Wahrheit und Überleben löst sich auf. Die Not. Die Hoffnung. Meine eigene Großmutter, die mir Geschichten erzählte, um mich satt zu kriegen, weil es nichts anderes gab. Ich betrachte dieses kleine Mädchen. So spindeldürr. Nicht einmal im Traum weiß sie, was ein voller Magen ist. Und dennoch ist sie voller Hoffnung. Voller Erwartung. Ich ergreife sie an den dünnen Armen und ziehe ihren federleichten Leib auf meinen Schoß.

Es war einmal eine Prinzessin, …“

Mary E. Pearson, Die Chroniken der Verbliebenen: Der Kuss der Lüge, Bastei Lübbe, Köln 2017, aus dem Englischen übersetzt von Barbara Imgrund, S. 7.

 

Verwirrt? Wunderbar! Geht mir noch immer so, auch wenn sich der Vorhang der Verwirrung und der Andeutungen langsam lichtet. Meine Rezension zu diesem Roman findest du hier.

 

Mary E. Pearson: Der Kuss der Lüge

Lia ist die erste Tochter eines alterwürdigen Königreichs, geboren als einzige Tochter des Königspaares. Erste Töchter verfügen in dieser Welt über die Gabe des Sehens, doch Lia bezweifelt, dass sie diese Gabe hat. Am Tag ihrer Hochzeit mit dem Thronfolger eines benachbarten Königreichs flieht sie zusammen mit ihrer besten Freundin in eine Hafenstadt, um sich dort ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen.

Hier findet sie Arbeit und Freunde, ein Zuhause. Sie vermisst ihre Familie, plant jedoch, ihr Leben fern von ihr zu verbringen. Hier lernt sie auch zwei Männer kennen, die ihr sofort ins Auge fallen. In Ihrem Umgang mit den beiden versucht sie zu ergründen, was Liebe ist, woran man merkt, dass man liebt.

Doch diese Suche wird bedroht: Von ihrem Vater, der sie suchen lässt, von einem mächtigen Höfling – und ihrem Verlobten sowie einem Attentäter.

Mary E. Pearsons erstem Band der „Chroniken der Verbliebenen“ ist die Versiertheit der Autorin anzumerken. Die Handlung wird von verschiedenen Protagonisten erzählt, wobei Lia als Haupterzählerin gilt. Anders als Jennifer L. Armentrout in ihrer „Obsidian“-Reihe liefert diese Autorin mit den unterschiedlichen Perspektiven auch verschiedene Einsichten in die Figuren und die Handlung. Zugleich verrät sie nicht zu viel und hält damit die Spannung hoch. Denn lange weiß auch der Leser nicht, wer der Verlobte und wer der Attentäter in dieser Geschichte ist.

Zudem ist die Sprache anspruchsvoller: Satzgefüge, die bildreich und anschaulich eine Welt beschreiben, die nach einer Phase der Zerstörung wieder aufgebaut wurde. Eine Welt, in der gebetet und an Weissagungen geglaubt wird:

Ich legte mich nieder und lauschte den Worten, die sie skandierte, der Geschichte der wahren Ersten Tochter. Diese hatte die Gabe, die die Götter ihr geschenkt hatten, dazu genutzt, die auserwählten Verbliebenen aus der Zerstörung in die Sicherheit eines neuen Landes zu führen und eine verwüstete Welt zu verlassen, um eine neue voller Hoffnung aufzubauen. (S. 41)

Unterbrochen wird die Handlung immer wieder durch Zitate aus den verschiedenen Chroniken dieser Welt, die aus einem Kontinent besteht, der an Nordamerika erinnert und im Buchdeckel abgebildet ist. Diese Zitate ergeben erst nach und nach einen Sinn für den Leser und tragen deshalb ebenfalls zur Spannung bei. Der Leser muss sich also Gedanken machen, und sind solche Romane nicht die besten!?

Neben der geografisch vertraut wirkenden Gestalt des Kontinents fiel mir auch einer der Reichnamen auf: Die sogenannten Barbaren leben im Königreich Venda, im Roman benannt nach ihrer ersten Königin. Ich musste dabei immer wieder an die Vandalen und die Wenden denken: Die Vandalen waren ein ostgermanischer Stamm, der im fünften nachchristlichen Jahrhundert gegen das Römische Reich kämpfte. Der Begriff „Vandalismus“ wird von diesem Stamm abgeleitet. Bei den Wenden handelt es sich um einen slawischen Stamm, der unter anderem im heutigen Mecklenburg-Vorpommern lebte. Beide Stämme wurden und werden oft gleichgesetzt und von ihren Gegnern als Barbaren bezeichnet. Ich weiß nicht, ob die Autorin den Namen „Venda“ mit Bezug zu den Vandalen gewählt hat (engl. Vandals) – für mich passte der Name jedenfalls hervorragend.

Ein weiterer Pluspunkt für den Roman: Die drei Hauptfiguren sind glaubhaft ausgestaltet und zum Glück nicht durchgehend typisch für dieses Genre: Die Prinzessin scheut keine körperliche Arbeit, kann ihre Spuren verwischen und mit einem Messer umgehen – vieles lernte sie von ihren Brüdern, bevor ihre Bewegungsfreiheit am Hofe eingeschränkt wurde. Auch wenn ich der Auffassung bin, dass Lia zu häufig über ihre Flucht und die Gründe dafür nachdenkt, nun, zumindest aus Sicht des Lesers, gefällt mir diese starke Heldin, die wieder einmal 17 Jahre alt ist. Sie lernt sich und die sie umgebende Welt immer besser kennen, kämpft und zeigt Schwächen, die sie menschlich machen. Sie ist kein Typ, sondern ein Charakter.

Die beiden männlichen Helden sehen, wie sollte es auch sein, unterschiedlich, aber gut aus und wirken damit zunächst wie zwei typische Kontrahenten, die mit ihren jeweiligen Vorzügen um das Herz der Heldin buhlen. Doch sie reflektieren ihre Situatione, ihre Pläne. Sie reden sogar mit anderen Männern über ihe Gefühle. Ehrlich, in dieser Form habe ich das wohl schon lange nicht mehr für einen männlichen Protagonisten in einem Jugendroman gelesen. Sie haben ihre Rollen in dieser Welt und in diesem Roman, doch die Autorin gönnt ihnen eigene Aufgaben und Probleme. Auch sie entwickeln sich.

Alle drei Figuren suchen auf ihre Art nach Liebe. Diese wird hier in ihren unterschiedlichen Facetten dargestellt und nicht jede Liebe endet glücklich. Auch deshalb halte ich diesen Roman für einen gelungenen Jugendroman.

Die Autorin lässt sich Zeit für die Entwicklung der Beziehungen, der Figuren, für die Ausgestaltung der Ausgangssituation. Das ermöglicht eine wachsende Bindung an die Welt und ihre Bewohner, die ein Leben führen, das an das im europäischen Mittelalter erinnert: Die Reisen sind lang und beschwerlich und finden auf Pferden statt, Frauen tragen Kleider, Bildung ist eine Frage der Herkunft, Hygiene eine Frage der Muskelkraft.

Schnell wird dem aufmerksamen Leser auffallen, dass das Deckblatt zwar ästhetisch ansprechend, jedoch nicht unbedingt treffend gestaltet ist: Es scheint, als zeige es die beste Freundin der Heldin und nicht diese. Warum? Auch nach der Lektüre der restlichen zwei Bände kann ich diese Frage nicht beantworten. Dennoch:

Wem Nina Blazons „Der dunkle Kuss der Sterne“ gefiel und wer gern Reihen liest, der ist hier goldrichtig. Auch Freunde der Mädchen-trifft-Badboy-Variante werden ihre Freude haben. Und all diejenigen, die von Stammeskriegen, Magie und Sagen nicht genug kriegen, sollten ebenso zu diesem Roman greifen.

One von Bastei Lübbe, ab 14 Jahren